Nachhaltigkeit in der naturwissenschaftlichen Grundbildung in Indien.

Was von einer Experimentierbox für den Unterricht nach 30 Jahren übriggeblieben ist

Ein Beitrag von Sylvia Mlynek

Im Zusammenhang mit dem Klimawandel sind auch Nachhaltigkeit und Bildung zu denken. Die Mitinitiatorin des Literaturwettbewerbs KLIMAZUKÜNFTE 2050 Sylvia Mlynek hat sich viele Jahre stark gemacht, dass auch Kinder in ärmeren Ländern adäquate Bildungsmöglichkeiten erhalten. So wie in Indien, wo sie bei der Einführung des Science Kit vor guten dreißig Jahren unterstützt hat. Was bis heute davon gelbieben ist, erzählt sie in diesem Bericht.

Die Zukunft wird (auch) in der Gegenwart gestaltet und manchmal sogar durch Entwicklungen in der Vergangenheit beeinflusst. Entwicklungen, die von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft reichen können, werden manchmal als „nachhaltige Entwicklung“ bezeichnet, jedenfalls dann, wenn sie dauerhafte und erfolgreichen Prozesse zur Folge haben. Ich möchte dazu ein persönliches Beispiel beschreiben.

Ich war vor mehr als 30 Jahren als Mitarbeiterin in einem Deutsch-Indischen Entwicklungsprojekt tätig, das zur Verbesserung der katastrophalen Unterrichtssituation, besonders auf dem Lande, beitragen sollte.In dem Projekt entstand ein sogenanntes „Primary Science Kit“, eine Experimentierbox, mit der Lehrerinnen und Lehrer einen guten naturwissenschaftlichen Unterricht auch an den Schulen auf dem Lande durchführen konnten, um die Schülerinnen und Schüler zu einer naturwissenschaftlichen Grundbildung zu führen.Ich war gespannt, ob aus unserem Projekt jetzt, im Jahre 2022, noch etwas übriggeblieben ist und habe deshalb auf der Webpage der indischen Fortbildungseinrichtung nachgeschaut. Zu meiner Überraschung: Ja, unsere alte Experimentierbox existiert noch immer, sogar in verbesserter Form, und sie wird in den Schulen eingesetzt!

Die Entstehung der Experimentierbox „Primary Science Kit“ im Jahre 1990

Auf deutscher Seite war die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, Eschborn mit der Durchführung beauftragt.  Die GTZ war ein gemeinnütziges Unternehmen, deren einziger Gesellschafter die Bundesrepublik Deutschland war. Hauptauftraggeber war das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der die GTZ damit beauftragte, die Aufträge des BMZ im Rahmen der Technischen Zusammenarbeit (TZ) auszuführen. Im Jahre 2011 wurde sie in die „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) umbenannt.

Auf indischer Seite lag die Durchführung beim National Council of Educational Research and Training (NCERT) in Neu-Delhi. Das NCERT ist eine von der indischen Regierung gegründete gemeinnützige Gesellschaft, deren Aufgaben in der Bildungsplanung, Bildungsforschung, Lehreraus- und -fortbildung, Erarbeitung von Curricula, Herausgabe von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien in Zusammenarbeit mit den Landesregierungen und den beteiligten regionalen Instituten liegen.

Das Projekt hatte das Ziel, den Naturwissenschaftsunterricht an den Primarschulen zu optimieren: Verbesserung und Neuentwicklung von Unterrichtsmaterialien, Erstellung von Lehrerhandbüchern, Science Kit Manual, Bildtafeln, Erarbeitung eines vielseitig verwendbaren transportablen Labors in Form einer Experimentierbox.

Die Experimentierbox „Primary Science Kit“: ein transportables Labor

Das entstandene Primary Science Kit ist ein transportables Labor. Eine Metallkiste, die elf Kilogramm wiegt und von einem Lehrer transportiert werden kann, enthält drei Fächer mit 91 Utensilien, die es ermöglichen sollen, Experimente durchzuführen, für die nicht ausschließlich lokalen Materialien verwendet werden können.Die Box enthält z. B. eine Federwaage, Handlinsen, einen Kompass, Pumpe, Werkzeuge, eine Vorrichtung um Kerzen und Kreide herstellen zu können sowie eine Reihe von Chemikalien, dazu notwendige Teile, um wiegen, messen und erhitzen zu können. Die Experimentierbox ist für die Demonstrationen von Experimenten und für Kleingruppenexperimente von Schülerinnen und Schülern geeignet.

Es gehören ein Kit-Manual mit der Bezeichnung sämtlicher Teile und deren Benutzung und einer Beschreibung von Experimenten zu den Unterrichtseinheiten der verschiedenen Themen in den Klassen 3 bis 5 dazu. Die Lehrer können diese Anleitungen wie ein „Kochbuch“ nutzen. Mit diesem Handbuch können die Lehrer schülerzentrierte Aktivitäten initiieren. Sie können die Schüler dazu anregen, die Umwelt zu erforschen, lokale Materialien zu nutzen, Ausflüge zu machen, Gruppendiskussionen anregen und Projekte durchführen.

Die Produktion der Science Kits erfolgte im Workshop des NCERT in Neu-Delhi und in den neu errichteten Produktionsstätten in Allahabad und Bhopal. Die Verteilung erfolgte zunächst über die lokalen Lehrerfortbildungsinstitute. Bei der Einführung der Experimentierboxen fanden zahlreiche Lehrertrainings statt, an denen ich beteiligt war. Erfahrene engagierte Pädagogen aus der Lehreraus- und Fortbildung, die bei der Entwicklung von Anfang mitgewirkt hatten, wurden im Umgang mit dem Science Kit, den Lehrerhandbüchern und dem neuen Lernansatz trainiert. Es wurde ein Aus- und Fortbildungssystem für die neuen Unterrichtsmaterialien entwickelt, um möglichst viele Schulen erreichen zu können. Am Ende des Projektes im März 1991 waren alle Komponenten des Kits für den Einsatz bereit und es wurden 900 Experimentierboxen in drei indischen Bundesstaaten verteilt, in Neu-Delhi, in Madhya Pradesh und in Uttar Pradesh.

Die Verwendung der Experimentierbox „Primary Science Kit“ im Jahre 2021

Nach mehr als 30 Jahren konnte ich dank des Internets feststellen, dass das National Council of Educational Research and Training in Neu-Delhi noch immer existiert und seine Bedeutung als führende Bildungsorganisation Indiens sogar ausgebaut hat.

Eine Dokumentation aus dem Jahre 2011 über 50 Jahre NCERT-Arbeit Leading-the-change…50 years of NCERT benennt den Erfolg der „Operation Blackboard“. Die damals neue Unterrichtsmethode mit den entwickelten Science Kits wird als besonders wertvoll hervorgehoben. Es gibt eine eigene Abteilung für „School Kits and Lab-Material“. Außer dem „Primary Science Kit“ ist ein „Secondary Science Kit“ sowie Experimentierboxen für andere Unterrichtsfächer und Jahrgänge entstanden. Der Lernansatz, der mit dem Primary Science Kit erstmals entwickelt wurde, wird weiterverfolgt.

Im neuen Kit-Manual erkenne ich viele Teile des früheren Science Kits wieder. Einige wurden verändert oder der neuen technischen und pädagogischen Entwicklung angepasst. Ein 250 Seiten starkes Handbuch für die Aktivitäten zu den Unterrichtseinheiten für „Environmental Education“ ist als PDF verfügbar. Das Aus- und Fortbildungssystem für die Lehrer durch „Resource Persons“ wird fortgeführt. Die Produktion der Kits ist von der lokalen Kleinindustrie in der Region übernommen worden und hat Arbeitsplätze geschaffen.

Das indische Trainingsinstitut NCERT im April 2022

Im April 2022 ist die NCERT Website neugestaltet und modernisiert worden. Siehe Website: http://ncert.nic.in und https://ncert.nic.in/pdf/school-kit/LMUPS_Science.pdf. (abgerufen am 20.05.2022). Die School Kits sind für die Klassen 5/6 „Upper Primary“ für Naturwissenschafts- und Mathematikunterricht,  7/8 „Secondary Level“ und bis zur Klasse 12 „Senior Secondary Level“ für die indischen Schulen verfügbar. Die Experimentierboxen sind wichtiger Bestandteil der Unterrichtsdurchführung geworden. Auf den Titelseiten der Manuals werden jetzt Mädchen als Werbeträgerinnen in den Vordergrund gerückt, was ein kleines, aber nicht ganz so unwichtiges Zeichen für die zunehmende Gleichstellung in Indien ist.

Nachhaltigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit – 30 Jahre später

Ich habe zunächst aus Nostalgiegründen nachgeschaut, ob noch etwas übrig geblieben ist von „meinen“ Projekten in Indien vor über dreißig Jahren. Meine Kolleginnen und Kollegen von damals sind längst außer Dienst oder schon verstorben. Die Idee der Experimentierboxen existiert aber immer noch und ist in der indischen Lehrerbildung und im Schuldienst noch lebendig. Ich freue mich, dass ich ein kleines bisschen dazu beitragen konnte, dass sich die naturwissenschaftliche Ausbildung für Mädchen und Jungen an indischen Grundschulen verbessert hat und bin froh darüber, dass in diesem alten Projekt von indisch-deutscher Entwicklungszusammenarbeit das Wort NACHHALTIGKEIT eine reale Bedeutung bekommen hat.